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14. Februar 1997

Der CVJM nimmt Stellung zur Situa­tion auf dem Aus­bildungs­markt

1. Situation auf dem Ausbildungsmarkt

Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt bereitet uns große Sorge. Geburtenstarke Jahrgänge treffen auf eine zurückgehende Ausbildungsbereitschaft großer Teile der Wirtschaft und fehlende Wirtschaftsstrukturen in Ostdeutschland.

Auch der rechnerische Ausgleich zwischen ausbildungswilligen Jugendlichen und angebotenen Ausbildungsplätzen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Bedarf in vielen Regionen, insbesondere in den neuen Bundesländern, längst nicht gedeckt ist. Viele Jugendliche haben nach zahlreichen erfolglosen Bewerbungen resigniert aufgegeben, ihre schulische Ausbildung fortgesetzt, eine Arbeit ohne Ausbildung aufgenommen oder ein Berufsvorbereitungsjahr begonnen.

Viele junge Menschen erfahren so am Anfang ihres Berufslebens, dass sie nicht gebraucht werden. Besonders Mädchen und junge Frauen sowie leistungsschwächere Jugendliche sind betroffen. Das bedeutet nicht nur die Zerstörung von Lebens- und Zukunftschancen und zusätzliche Belastungen der sozialen Sicherungssysteme. Vielmehr steht mittelfristig die Stabilität unserer Demokratie zur Disposition. Wer am Beginn seines Berufslebens statt einer Chance Ausgrenzung erfährt, wird später nur schwer für ein in der Demokratie unverzichtbares gesellschaftliches Engagement und für Solidarität zu gewinnen sein. Wer jungen Menschen Ausbildung verweigert, stellt die Grundlagen unseres Gesellschaftssystems in Frage.

Die Familie ist für die Entwicklung von jungen Menschen von entscheidender Bedeutung. Die von Jugendlichen geforderte Flexibilität muss dort ihre Grenze haben, wo von 15- und 16-Jährigen erwartet wird, dass sie hunderte Kilometer von ihrem Heimatort entfernt eine Ausbildung aufnehmen. Jugendliche und ihre Eltern dürfen nicht vor die Alternative Berufsausbildung oder Familie gestellt werden. Jugendliche in diesem Alter sind oft mit einer dauerhaften Trennung von den Eltern noch überfordert und Eltern werden daran gehindert, ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern wahrzunehmen. Zu einer wohnortnahen Ausbildung gibt es deshalb keine Alternative.

2. Rahmenbedingungen verbessern

Tarifpartner und Politik müssen Rahmenbedingungen schaffen, die Betrieben die Entscheidung erleichtern, sich an der Ausbildung junger Menschen angemessen zu beteiligen.

Ausbildung ist dabei zuerst Aufgabe der Wirtschaft, geht es doch um ihren Fachkräftenachwuchs. Die Wirtschaft darf nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Aber auch der öffentliche Dienst und die Kirchen müssen sich angemessen an der Ausbildung von jungen Menschen beteiligen. Es ist nicht hinnehmbar, dass es in den letzten Jahren zu einem spürbaren Rückgang der Ausbildungsbereitschaft in der Wirtschaft gekommen ist; bei Großbetrieben um ein Viertel und bei kleinen und mittleren Unternehmen um ein Drittel. Die Forderung nach einer gerechteren Verteilung der Ausbildungskosten ist berechtigt. Hier sollten jedoch Vereinbarungen zwischen den Tarifpartnern den Vorrang vor staatlichen Eingriffen haben, können sie doch die regionalen und branchenspezifischen Besonderheiten besser berücksichtigen als das ein Gesetz tun kann. Den Tarifpartnern obliegt auch die Gestaltung von Ausbildungsvergütungen.

Öffentliche Aufträge sollten nur noch an Unternehmen vergeben werden, die bereit sind, sich angemessen an der Ausbildung junger Menschen zu beteiligen. Das gleiche gilt für staatliche Wirtschaftsförderung (in den neuen Bundesländern).

In Regionen, die ein Ausbildungsplatzdefizit aufweisen, sollten für die Schaffung (zusätzlicher) betrieblicher Ausbildungsplätze steuerliche Anreize geschaffen werden. Fördermittel zur Schaffung zusätzlicher betrieblicher Ausbildungsplätze sollten von der Steuer freigestellt werden.

Ausbildungsordnungen müssen zügig (weiter)entwickelt und in Kraft gesetzt werden. Dies gilt insbesondere für neue, moderne Berufe. In der Anlage A der Handwerksordnung sollten neben diesen aber auch für Regionen relevante, traditionelle Berufe Aufnahme finden.

In den neuen Ländern wird eine ausreichende Versorgung mit Ausbildungsplätzen auch in den kommenden Jahren nur mit staatlicher Hilfe möglich sein. Die Förderung von zusätzlichen betrieblichen und überbetrieblichen Ausbildungsplätzen muss dabei Vorrang vor der Förderung von außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen haben. Förderprogramme von Bund und Ländern müssen so rechtzeitig aufgelegt werden, dass das Ausbildungsjahr für alle ausbildungswilligen Jugendlichen pünktlich beginnen kann.

3. Aufgaben des CVJM

Es darf uns als CVJM nicht gleichgültig lassen, wenn Jugendliche keinen Ausbildungsplatz bekommen, ihre Gaben nicht entfalten können und das Gefühl haben, nicht gebraucht zu werden. Unsere Vereine vor Ort sind aufgefordert, betroffenen Jugendlichen praktisch zu helfen.

Möglichkeiten dieser praktischen Hilfe können u.a. sein:

  • Unterstützung von Jugendlichen bei der Ausbildungsplatzsuche, einschließlich Bewerbungstraining
  • Bemühung bei ortsansässigen Firmen um Ausbildungs- und Schulpraktikaplätze
  • Hilfe bei der Wohnungssuche für Jugendliche, die einen auswärtigen Ausbildungsplatz annehmen mussten 
  • Vermittlung von Familien- und Gruppenanschluss für diese Jugendlichen
  • wo möglich, Einrichtung von Ausbildungsplätzen und Maßnahmen der Jugendberufshilfe für benachteiligte Jugendliche

In der jugendpolitischen und Öffentlichkeitsarbeit sollte das Thema Ausbildungsplätze, auch zusammen mit anderen Jugendverbänden, immer wieder thematisiert werden, um Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft der Region für dieses Thema zu sensibilisieren und Bündnispartner zu finden.

gez. Hermann Sörgel
Präses des CVJM-Gesamtverbandes

Diese Stellungnahme wurde am 14. Februar 1997 in Niedenstein bei Kassel vom Vorstand des CVJM-Gesamtverbandes in Deutschland e.V. einstimmig verabschiedet.