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April 1989

Christen gestalten Gesellschaft

Orientierungshilfe für verantwortliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur politischen Bildungsarbeit im CVJM

In den "Thesen zum politischen Handeln im CVJM", 1977 vom CVJM-Gesamtverband herausgegeben, heißt es: "Der CVJM will durch Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus zum Glauben an ihn und in seine Nachfolge rufen. Das Leben in der Nachfolge Jesu hat auch politische Konsequenzen." (These 1) "Politisches Handeln setzt eine umfassende politische Bildungsarbeit im CVJM voraus, die Kenntnisse und Einsichten vermittelt, politisches Bewusstsein fördert und zu verantwortungsbewusstem Handeln befähigt." (These 14)

In Fortführung dieser Thesen legt der Hauptausschuss des CVJM-Gesamtverbandes eine Orientierungshilfe zur politischen Bildungsarbeit vor. Sie soll helfen, den Auftrag zum politischen Handeln zu begründen, den Zusammenhang mit der Sendung der Gemeinde in die Welt herzustellen und den Blick für die politischen Herausforderungen zu weiten.

Politische Bildung gehört zur Glaubensbildung der jungen Christen. Darum möchte die Orientierungshilfe die verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anregen, den gesellschaftspolitischen Dienst in ihrer missionarischen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiterhin bewusst zu machen, zu begründen und zu konkretisieren.

I. Zur Gestaltung beauftragt

  1. Die Gestaltung und Erhaltung der Gabe Leben gehört zum Geschöpf Mensch (als Mann und Frau). Diesen Auftrag kann der Mensch nur als soziales Wesen in der Gemeinschaft mit anderen wahrnehmen (1. Mose 1,26-29). Wir definieren aus dieser Beauftragung Politik als den Bereich, in dem Zusammenleben und die Erhaltung der Schöpfung gestaltet werden. Für Christen bedeutet das: Zur Ehre Gottes!
  2. Der Mensch als Sünder wird diesem Auftrag nicht gerecht. Besonders die Propheten im Alten Testament weisen im Namen Gottes darauf hin (z.B. Amos 5,10-12; 6,1-8). In diesem prophetischen Ruf wird deutlich, wie der von Gott abgefallene Mensch zu Unrecht und Selbstsucht neigt. Gott lehnt die gottesdienstliche Feier ab, wenn das Recht und die Gerechtigkeit im Lebensvollzug fehlen (Amos 5,21-24).
  3.  Aus der Geschichte lernen wir, wie Christen ihre Verantwortung vor dem Hintergrund der menschenfeindlichen Gesetzgebung und politischen Praxis des "Dritten Reichs" begründen: "Jesus Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heilung und zur Erlösung" (1. Korinther 1,30). Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften. (Theologische Erklärung von Barmen, II., 31.5.1934)

II. Zur Gestaltung befreit

  1. Gott befreit den Sünder durch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi "zu guten Werken" (Epheser 2,1-10). "Befreit von der Sünde, seid ihr der Gerechtigkeit dienstbar geworden" (Römer 6,18). Das ist eine neue Beauftragung der Geschöpfe Gottes zur Gestaltung der Welt.
    Mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat Gott seinen Machtanspruch auf die Welt neu proklamiert. In der Ausgießung des Heiligen Geistes gibt Gott den Jüngern des Auferstandenen Kraft und Gnade zur Verkündigung und Lebensgestaltung (z.B. Apostelgeschichte 4,32-35).
    Darin ereignet sich die Königsherrschaft Jesu Christi. Sie wird vollendet, wenn er zum Gericht und zur Schaffung der neuen Welt wiederkommt.
  2.  Politische Gestaltung ist für Christen eine sichtbare Frucht, die aus dem Glauben an Jesus Christus erwächst (Johannes 15,5), d.h.: ohne Christus keine sichtbare Frucht!

III. Zur Gestaltung begabt

  1.  In und durch die Gemeinde Jesu Christi ist der Heilige Geist wirksam. Sie ist der Ort, an dem die durch Jesus Christus Befreiten Formen, Gaben und Aufgaben ihres neuen Lebens entdecken und einüben. Ohne Gemeinde gelingt politische Gestaltung zur Ehre Gottes nicht. Sie degeneriert zum "Werk des Fleisches" und wird nicht "Frucht des Geistes".
  2.  Das Zusammenleben der Christen in der Gemeinde soll Modell für das Zusammenleben in der Gesellschaft sein. "Ihr seid das Licht der Welt..." (Matthäus 5,14-16).
  3. Biblische Hinweise:
    • Dienststruktur des Lebens (Markus 10,41-45): Jesus bezeichnet sein eigenes Lebenswerk als Dienst. Er leitet seine Jünger zur neuen Seinsweise an: Diener sein.
      Entscheidungsfindung (Apostelgeschichte 15,1-34): Diese Mitarbeiterversammlung der Urkirche in Fragen der Lehre und christlichen Lebens gibt uns Kriterien für gemeinsame Entscheidungen: offen reden, zuhören, artikulieren, beraten, streiten, bezeugen, leiten, beschließen, handeln.
    •  Umgang mit Konflikten (Matthäus 18,15-20): Diese Anweisung lehrt auch uns geduldige Schritte der Konfliktlösung unter vier Augen, vor Zeugen, in der Gemeinschaft, im Gebet vor Gott.
    •  Weisheit im Umgang mit anderen (Kolosser 4,5-6): Als zeitbewusst, eindeutig und freundlich werden Christen im Umgang mit Nichtchristen beschrieben. Das nennt die Bibel weise.
    • Liebe untereinander (Apostelgeschichte 4,32): Die Liebe untereinander hat das Merkmal der Einheit von Glauben und Leben, einschließlich materieller Konsequenzen füreinander. "Das Volk hielt viel von ihnen". (Apostelgeschichte 5,13b)
    • Lehre für Glauben und Leben (1. Timotheus 4,12-16; 2. Timotheus 3,14-17): Auch alles "gute Werk" zieht seine Wurzeln aus der Heiligen Schrift, die in der Gemeinde ausgelegt wird.
    • Erziehung zum Leben (1. Tessalonicher 5,6.12-22): Alle Glieder der Gemeinde Jesu helfen einander, im Erkennen und Tun des Guten, im Meiden des Bösen, in der Freude des Herrn und im Frieden untereinander zu wachsen und zu reifen. Das bezeichnet die Bibel mit Wachsamkeit. Eine christliche Gemeinschaft, die sich nicht zum zeugnishaften Leben erzieht, schläft ein und verliert ihre Wirksamkeit.
    • Friedensstruktur des Lebens (Römer 14,8; 15,2.5-7): Weil Christus unser Friede ist (Epheser 2,14), können wir als gleichermaßen Versöhnte Gottes einander annehmen und kritisch begleiten zur gemeinsamen Auferbauung, damit Gott gelobt wird.
    • "Lernen" der Gerechtigkeit (Römer 6,12-14): Die Sünde gebraucht uns als Werkzeuge der Ungerechtigkeit. Dadurch werden wir ungerecht gegenüber der Schöpfung Gottes, ungerecht gegen Mensch und Kreatur sowie in Strukturen. Eine Gemeinschaft, die sich der Gerechtigkeit in dieser Welt entzieht, bleibt der Sünde verhaftet. Sie gibt ein falsches Zeugnis (2. Mose 23,2). Durch Christus lebendig geworden, sind Christen zum Tun der Gerechtigkeit begabt.

IV. Zur Gestaltung herausgefordert

Das Zusammenleben der Menschen wird durch staatliche Ordnung geregelt. Sie ist Gottes Anordnung (Römer 13,1) und menschliche Einrichtung (1. Petrus 2,13). Sie anzuerkennen und sich ihr unterzuordnen, geschieht um Jesu Christi willen – zunächst unabhängig davon, welche Form von Staat dem Christen begegnet.

Aufgabe des Staates ist es, die zu bestrafen, die Böses tun und die zu loben, die Gutes tun – als "Gottes Dienerin, dir zugut" (Römer 13,3-4; 1. Petrus 2,14). Bis Jesus Christus wiederkommt und den neuen Himmel und die neue Erde schafft, auf der es kein Unrecht mehr geben wird, ist staatliche Ordnung mit ihrem Gewaltmonopol (Römer 13,3) nötig. Christen haben eine grundsätzlich positive Einstellung zur Institution Staat.

Diese Wertschätzung staatlicher Ordnung führt nicht zur bedingungslosen Anerkennung staatlicher Macht. "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist" (Matthäus 22,21). "Ehrt jedermann, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott, ehrt den König" (Petrus 2,17). Gottesfurcht ist die Grenze der Respektierung staatlicher Macht.

Jeder Versuch des Staates, totalen Anspruch über das Gewissen der Menschen zu erheben, steht im Widerspruch zum ersten Gebot. "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apostelgeschichte 5,29).

Die biblische Sicht des Staates ist unvollständig ohne Einbezug von Offenbarung 13. Das "Tier aus dem Meer", der Weltdiktator, erhält "seine Kraft und seinen Thron und große Macht" (V.2) vom Satan. Die Erdbevölkerung wird dazu gebracht, den Weltdiktator anzubeten. Der totalitäre Staat tritt in Konkurrenz zum ersten Gebot.

Die Einstellung des Christen zum Staat ist also von der doppelten Möglichkeit bestimmt, dass der Staat Gottes Dienerin und Instrument des Satans sein kann. Für die Mitwirkung der Christen in einer Demokratie ergibt sich daraus eine weitreichende Verantwortung.

"Obrigkeit" im biblischen Sinn ist nach demokratischem Verständnis das Volk. Damit werden Christen verantwortlich dafür, dass der Staat seinen von Gott zugewiesenen begrenzten Auftrag (Förderung der Gerechtigkeit, Abwehr des Unrechts) wahrnimmt, aber dass jede totalitäre Tendenz, in der sich der Staat Gottes Autorität anmaßt, abgewehrt wird.

V. Zur Gestaltung helfen

Wir sind beauftragt, befreit, begabt und herausgefordert. Das macht uns offen und fähig für Verantwortung in der Welt, zeigt uns verschiedene Handlungsebenen, hilft uns, Nöte wahrzunehmen, Lebensformen und Aktionsbereiche zu entdecken. – Konkretionen sind:

  1. Beten:
    In 1. Timotheus 2, 1-4 wird uns geboten, schon des Evangeliums wegen für die politisch Verantwortlichen zu beten. Alles politische Handeln braucht unser Bitten und Danken im Gebet. Im Gebot der Feindesliebe wird die besondere Bedeutung der Fürbitte deutlich: Sie wählt nicht aus, sie macht keine Unterschiede, sie bringt gerade die größten Hindernisse vor Gott. Das Gebet hat auch im politischen Leben Verheißung. Die nachfolgenden Konkretionen politischer Bildungsarbeit sind ohne Gebet nicht denkbar.
  2. Lehren:
    Motive politischen Handelns entspringen oft gefühlsmäßiger Betroffenheit. Betroffenheit bedarf der sachlichen Ergänzung und Vertiefung. Politisches Handeln ist mit der biblischen Überlieferung zu verbinden. Dadurch wird uns deutlich, dass Jesus der Herr der Welt ist. Seine Königsherrschaft relativiert und korrigiert alle Gesellschaftslehren, über die wir uns informieren (Marxismus, Liberalismus, Kapitalismus, unterschiedliche Lehren über Demokratie).
    Das Lehren ereignet sich im Lebensvollzug, in der Gruppe, in Seminaren, in Freizeiten.
  3. Gemeinsam leben:
    Im gemeinsamen Leben in der Familie, in der Gruppe, in Freizeiten, in Aktionen können Tugenden eingeübt werden: z.B. Toleranz, Friedensfähigkeit, Fairness, Wahrhaftigkeit in Liebe. Das zeigt wie wichtig die Formen des alltäglichen Zusammenlebens sind, aber auch des bewussten Lernens.
  4. Dienen:
    Die Ausübung des Berufs ist Dienst an und in der Gesellschaft (1. Mose 2,15). Der Beruf hat eine gesellschaftspolitische Dimension. Arbeitslosigkeit ist damit Entzug einer Form politischer Mitverantwortung. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Berufsausbildung und Arbeitswelt politische Bildung.
    Im Besonderen fordern uns in Not geratene Menschen zum Dienst heraus: Sozial Benachteiligte, Verfolgte, Heimatlose. Mit ihnen wollen wir das Leben teilen.
  5. Verkündigen:
    Wer politisch handelt, enthält dem Nächsten nicht das Wort des Lebens, das Evangelium, vor. Verkündigung ruft den Sieg und die Herrschaft des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus aus und lädt ausdrücklich in die Nachfolge Jesu ein, zum Leben in Gemeinschaft mit ihm und seiner Gemeinde und zum Dienst in der Welt. Verkündigung benennt Sünden im Licht Jesu, auch die der Gesellschaft. Sie ruft zur Buße und zum Tun des Guten auf (1. Thessalonicher 5,15).
  6. Seelsorgerlich begleiten:
    Es gehört zur Leitungsverantwortung, dass junge Christen auf ihre politische Verantwortung angesprochen, bei der Suche nach ihrer persönlichen Aufgabe unterstützt und in ihrem politischen Dienst begleitet werden. Nicht jeder ist für jede politische Herausforderung geeignet. Aber jeder braucht die Klarheit für seinen Weg und die begleitende Zuwendung auf seinem Weg.
  7.  Bewusst leben:
    Der Lebensstil der Christen ist zeichenhaft für die Welt. Das bezieht sich auf ihr Verhalten als Frauen und Männer – auch zueinander -, auf ihren Umgang mit Besitz, ihre Offenheit für Fremde, ihr Eintreten für Andersdenkende. Der Lebensstil der Christen hat politische Wirkung.
  8. Konkret handeln:
    Im konkreten Handeln vollzieht sich das Lernen. Lernfelder können sein: Ich engagiere mich als Einzelner für eine bestimmte Aufgabe oder in einem bestimmten Gremium. Oder: Wir gestalten als Gruppe eine Aktion oder eine Veranstaltung. Das Lernen im konkreten Handeln bedarf der theologischen Reflexion und der Auswertung als Einzelner und als Gruppe. Daraus erwachsen Fortsetzung, Weiterentwicklung oder Änderung der Handlungen.
  9. Miteinander in der Gruppe lernen:
    In der Gruppe können Jugendliche lernen, sich zu artikulieren, zu formulieren, Verantwortung einzuüben, Enttäuschungen positiv zu verarbeiten, trotz Widerständen zu handeln, sich gemeinsam öffentlich zu engagieren. Die "ganz normale" Gruppe wird zum geheimen Trainingsfeld für politische Verhaltensweisen; darum ist Gruppenarbeit immer auch politische Bildungsarbeit.
  10. Verantwortung übernehmen:
    In vielen gesellschaftlichen Bereichen ist es möglich und nötig, als Christen verantwortlich mitzuarbeiten: z.B. in Jugendringen, Schülervertretungen, Betriebsräten, Gewerkschaften, Parteien, Aktionsgruppen. Dabei ist die Anbindung an die christliche Gemeinschaft wichtigste Voraussetzung.
  11. Informieren:
    Politisches Handeln ist ohne politische Information undenkbar. Informationen nehmen wir auf durch Medien (Presse, Funk, Fernsehen, Sachliteratur), Menschen (Begegnungen mit politisch Verantwortlichen, mit Betroffenen) und Reisen (Entdeckungen unterwegs, am Urlaubsort, auf Freizeiten). Das Interesse an der politischen Information wird geweckt und gefördert, wenn es in der Programmarbeit praktiziert wird.
  12. Weltweit verantwortlich sein:
    Christen sollen von den Problemen dieser Welt betroffen sein. Für sie sind Ernährung, Gesundheit, Bildung und Arbeit weltweit ungelöste Fragen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten sind sie aktiv an der Beseitigung von Unrecht beteiligt und tragen zur Lösung von Konflikten bei. Ebenen dafür sind im CVJM der Weltdienst, die internationalen Begegnungen und Austauschprogramme, die Friedensarbeit, die Öffentlichkeitsarbeit in unserer Gesellschaft. Wer sich weltweit mitverantwortlich weiß, wird sich nicht nur informieren und engagieren, sondern auch Konsequenzen für den eigenen Lebensstil ziehen.
  13. Ethisch verantwortlich mitwirken:
    Rechtsnormen und Gesetzgebung werden von wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen und sozialen Entwicklungen beeinflusst. Ethische Verhaltensweisen werden davon mitgeprägt. Christen werden sich deshalb mit bedeutsamen Entwicklungen auseinandersetzen, für den Schutz des Lebens und der Umwelt einsetzen und entsprechend auf die Gesetzgebung einwirken. Dabei sind für sie die Gebote Gottes eindeutige Orientierungen der Liebe.

Vom Hauptausschuss des CVJM-Gesamtverbandes in seiner Sitzung am 21./22. April 1989 in Kassel verabschiedet.